Ein fragwürdiges Plädoyer?
Markus Spieker möchte evangelikale Christen aufrütteln, intellektuell mehr zu wagen. Mich hat das inspiriert, etwas über den Evangelikalismus und Bildung nachzudenken.
In diesem Blog-Beitrag bespreche ich einen Aufsatz von Markus Spieker, der 2020 ein Buch zur Weltgeschichte Jesu veröffentlichte und das mir seither schon einige Male empfohlen wurde.
Auf Dave Jäggis Blog bin über diesen älteren Aufsatz (2012) von Markus Spieker gestolpert, der mich inspiriert hat etwas über Intellektualität im Christentum nachzudenken.[1] Hier könnt ihr den ganzen Aufsatz nachlesen. In meinem Beitrag verweise ich in Klammern auf die Seitenzahl des Aufsatzes von Spieker.
Die Publikation des Aufsatzes liegt schon etwas zurück, aber die geäusserten Überlegungen sind meines Erachtens für kirchliche Kreise heute noch aktuell.
Klage gegen ein evangelikales Defizit
Spieker lamentiert über das offensichtliche Gefälle zwischen Christen, die auf der Strasse demonstrieren, um Jesus als Herrn zu proklamieren und anspruchsvollen intellektuellen Milieus, wie Literaturclubs, Kunstgalerien und Ideenmessen, die ihm „Hirnstimulation“ geben, die er in kirchlichen Kreisen nicht bekomme. Seine These: Dieser vermeintliche Mangel an christlich intellektueller und schöngeistiger Kultur sei nicht nur für ihn persönlichen ein Verlust, sondern sei ein bedauerlicher Mangel für die ganze Gesellschaft. So sei Juli Zeh paradigmatisch „[t]raurig, das zu sagen, aber […] glaube an überhaupt keinen Gott.“ (S. 4) Sie steht für eine neu aufkeimende gesellschaftliche Sehnsucht nach Orientierung und Sinn, welcher die gegenwärtige evangelikale Kultur nicht gerecht werden könne.
So zeige sich in der musikalischen Gottesdienstkultur der Gegenwart dieses Defizit:
„[S]o redundant die Anbetungs-Lyrik, die zuweilen nicht nur von weichen Herzen zeugt (positiv), sondern auch von weichen Hirnen. König David, Paul Gerhardt, Jochen Klepper haben anders gedichtet. Weil viele vermeintlich gastfreundliche Gottesdienste den Anschein erwecken, dass sie nicht frei ab 18, sondern frei bis 18 sind, bleiben anspruchsvolle Gemüter weg. Der Kulturschock ist zu gross.“ (S. 5)
Besonders die Kritik, es zeuge „von weichen Hirnen“, hat mich ehrlich überrascht. Denn besonders evangelikale Christen – zu denen sich Spieker selbst zählt – wollen ja mit dem Herzen glauben und nicht mit dem Hirn – und in Kirche und Gottesdienst geht es ja vor allem um das Herz.
Persönlich kann ich das Bedürfnis nach geistreicheren, Hirn stimulierenden Gottesdiensten nachvollziehen, aber finde es unberechtigt den Gottesdienstbesuchern automatisch „weiche Hirne“ zu unterstellen, wenn auch nur implizit. Zumal die Besucher von Gottesdiensten aller Konfessionen in den stark vom Klerus dominierten Gottesdienstsphäre kaum Einfluss auf die Gottesdienstform oder deren Ablauf nehmen können.
Wenn Hirn fehlt, dann wohl bei den Verantwortlichen und nicht den Besuchern. Aber dieses Defizit ist für die Gottesdienst affinen Christen, die offensichtlich gerne solche vermeintlich zerebral unterfordernden Gottesdienste besuchen, keines – sie fühle sich schlicht von anderen Aspekten angesprochen und bereichert.
D.h., für Christen hat der sonntäglich Besuch des Gottesdienstes und die Beteiligung am Gemeindeleben und sozialem Engagement ganz diverse Gründe. Literatur, Kunst, ja selbst wissenschaftliche Theologie interessiert nur einen Bruchteil der Gottesdienstbesucher. Dazu kommt natürlich die Feststellung, dass auch Christen dem Bevölkerungsschnitt entsprechen.[2] Nehmen wir Deutschland als Beispiel, dort haben 82% der Bevölkerung keinen Hochschulabschluss, also die grosse Mehrheit.[3] Sehr unwahrscheinlich, dass sich das Interesse und die Beschäftigung mit schöngeistigen und intellektuellen Kulturgütern wie Literatur, Geisteswissenschaften oder Kunst auf eine viel grösseren Teil der Bevölkerung verteilt. Wem die Ungleichheit an Bildungsstand und intellektuellem Interesse in der Bevölkerung bewusst ist, den sollte auch dieser Graben in der christlichen Kirche nicht verwundern.
Meine persönliche Einschätzung lautet, dass es Konfessionsübergreifend kaum Kirchen gibt, die allein schöngeistig ausgerichtet sind und die praktisch nur aus Menschen dieses Milieus bestehen: sozusagen intellektuelle Milieukirchen. Zwar schätze ich, wird man innerhalb von Landeskirchen solche intellektuelle Submilieus, vermutlich durch die grössere Nähe – insbesondere in grossen Städten – zur universitären Theologie und Kultur, weit häufiger antreffen.
Ungläubiges Deutschland?
Dave Jäggi fiel 2012 ein etwas überheblicher Ton auf:
„Allerdings hat seine Schreibe durch die an den Sarkasmus grenzende Ironie einen eher pessimistischen und dadurch auch etwas arroganten Einschlag.“
– Dave Jäggi, Sola Gratia. Christliche Avantgarde: Intellektueller Dualismus?, Blog, 2012.
Jäggis Kritik ist berechtigt. Sie zeigt sich bspw. an Spieker Perspektive auf das Christentum in Europa.
Spieker schreibt von einem eklatanten Mangel an inspirierenden und anregenden evangelikalen Persönlichkeiten, die „Mentoren, Bewusstseinsmachern, Glaubensoptiker“ sind und helfen mit den Augen des Glaubens „Berufung zu entdecken, Talent zu entwickeln, Verantwortung zu übernehmen“ (S. 4).
Allein aus dem deutschsprachigen Evangelikalismus fallen mir spontan schon einige Persönlichkeiten ein, die unter diese Kategorie fallen könnten, bspw.: Leo Bigger, Tobias Taichen, Roland Hardmeier[4], Wolfgang Nestvogel[5] oder Markus Iff[6].
Ganz zu schweigen von all den Christenmenschen, die an universitären und kirchlichen Hochschuleinrichtung wirken – diese schliesst Spieker aus seinen Überlegungen offensichtlich aus. Denn trotz eines meines Erachten offensichtlichen Reichtums an wachen und brillanten christlichen Mentoren, Lehrern und Künstlern in unserer Gesellschaft beklagt er ein Defizit in Deutschland:
„Der eklatante Mangel an guten Autoren, Dozenten und Politikern aus unseren Reihen lässt sich nicht weiter beschönigen.“ (S. 7)
Und zwar nur in Deutschland bzw. Europa, denn in Übersee sei das nämlich schon ganz anders:
„Einige evangelikale Colleges haben sich zu Kaderschmieden gemausert, in der Hauptstadt Washington wirken glaubensgeleitete ‚Think Tanks‘ an der öffentlichen Meinungsbildung mit, Zeitschriften wie ‚Books and Culture‘ stimulieren den wissenschaftlichen Diskurs unter Christen – und darüber hinaus. Gläubige sind auf einmal auch intellektuell satisfaktionsfähig.“ (S. 3)
Damit werden einfach bestehende deutsche kirchliche Akademien und Bildungs-Institutionen pauschal als nicht glaubensgeleitet abgewertet – zumindest impliziert diesen Eindruck seine explizite Qualifikation von US-amerikanischen evangelikalen Think Tanks als „glaubensgeleitet“.
Diesen Eindruck erweckt auch seine widersprüchliche Forderung kirchlicher Literaturclubs (vgl. S. 1.7), während er sich gleichzeitig darüber moniert, dass eine Evangelische Denkfabrik eine dreitägigen Konferenz zu Michel Houellebecq abhält. (Vgl. S. 2)
Irrelevante Theologie
Trotz dieses blinden Flecks in Spiekers Aufsatz, gefällt mir die Grundeinstellung hinter seinen Argumenten. Wenn er von „unseren Reihen“ spricht, drückt sich der Pathos und Wunsch zu einer gemeinsamen Sache aus, die alle Christen vereint.
Nämlich der Gemeinsame Streit für Gerechtigkeit, für die Verbreitung des christlichen Glaubens und gegen das Böse in der Welt und in uns Menschen.
Und ganz zurecht macht er darauf aufmerksam, dass dieser gemeinsame Kampf hier bei uns stattfindet, nicht nur in Papua Neuguinea oder auf dem afrikanischen Kontinent:
„So selbstverständlich, wie Missionstrips nach Papua Neuguinea sind, sollten Bildungsprogramme für begabte junge Christen sein, vor allem diejenigen, die sich gesellschaftspolitisch engagieren wollen; sie müssen gezielt identifiziert, motiviert und qualifiziert werden.“ (S. 7)
Damit spielt er auf einen anhaltenden Trend unter jungen Christen an, ein soziales Jahr im Ausland zu machen, vorzugsweise bei einer Missionsgesellschaft.
Im Verhältnis dazu wird theologische Ausbildung kaum geschätzt, besonders an den vermeintlich staatlich finanzierten theologischen Fakultäten.
Dass junge Menschen ihren Horizont im Ausland erweitern und dass nicht nur an elitären Hochschulen, sondern für und bei einfachen Menschen, in ihren Alltag eintauchen und sich dabei auch gleich sozial engagieren – ist bemerkenswert!
Freikirchen verlangen oft eine theologische Ausbildung, denn Missionare, ehrenamtlicher Seelsorger oder Predikanten gewesen zu sein, reicht oftmals nicht als Qualifikation aus. Aber wenn es schon eine theologische Ausbildung sein muss, dann vorzugsweise an einer privaten Einrichtung, die möglichst den Ruf evangelikaler Imprägnierung geniesst, was je nach evangelikalem Milieu nicht jeder privaten Bibelschule gleichermassen zugesprochen wird. D.h., theologische Bildung bleibt weitestgehend Privatsache – „begabte junge Christen“ müssen ihre evangelikal anerkannte theologische Bildung in der Regel selbst finanzieren und werden bei der wissenschaftlichen Vertiefung ihres theologischen Interesses – wenn es vom Bildungsanspruch dieser privaten Schulen überhaupt zu einer verhältnismässig wissenschaftlichen Vertiefung kommt – weitestgehend von den Gemeinden allein gelassen.
Hier tut sich ein Defizit kund, dass zum Relevanzverlust der Theologie insgesamt beiträgt. Wenn nicht einmal christliche Gemeinden sich für theologische Forschung und ihre Ergebnisse interessieren, warum sollte es dann die allgemeine Gesellschaft überhaupt wahrnehmen?
Der Theologie als einer intellektuelle und kritische Beschäftigung mit der Bibel stehen evangelikale Kreise eher skeptisch gegenüber. Manche betrachten diesen sogar als Gefährlich oder gar Schädlich für den Glauben.
Dabei ist die intellektuelle Aneignung der Bibel elementar für den Glauben.
Darum kritisiert Spieker zu recht, dass Christen auch im theologischen Vordenken eine ecclesia militans sein sollten. Kirchen die Vordenker kleinmachen oder fürchten, verkennen das prophetische Mandat der Kirche und die Gabe des Geistes dazu. Denn ist Theologie im Kern etwas anderes als Prophetie? War Paulus kein Theologe? Haben die Propheten nicht theologisiert?
Eine Kritik die zählt
Das prophetische Amt der Kirche nötigt aber eine gewisse harte und kritische Masse an „Hirn“, um funktional zu sein. Und zwar nicht nur vom Propheten, sondern besonders von denen die ihn hören. Denn wenn ich zwar glaube und höre das Wort Gottes, aber nicht zunehmend verstehe, wer und was Gott ist, dann wachse ich gewissermassen nicht im Glauben, dann verpasse ich die reichen Wirkungen des Erkennens und Verstehens.
Bei Anselm von Canterbury (†02.04.1109) finden wir zwei Zweckmässigkeiten des intelligere, der Aufgabe der Theologie, nämlich:
- Die Nützlichkeit der Erkenntnis, das probare (lat.), auf Deutsch: Die Bewährung oder Bewahrheitung des Glaubens in und durch die Vernunft;
- und viel wichtiger für Anselm die pulchritudo (lat.), die Schönheit Gottes zu geniessen und sich an ihr zu erfreuen – Freude und Anmut im Glauben ist der Endzweck der Theologie für Anselm.[7]
Die Theologie hat offensichtlich nicht den Zweck zu dominieren, apodiktisch vorzugeben, was richtig oder falsch sei, was man tun oder meiden solle, sondern sie stellt für Anselm eine künstlerische Aufgabe.
Damit offenbart sich ihre seelsorgerische Notwendigkeit, denn Klarheit bedeutet nicht Schwarz-Weiss zu denken oder sich auf eine Meinung festzulegen – es bedeutet vielmehr zu verstehen, was man glaubt, d.h., in existenzieller und profunder Weise ausdrücken zu können, was man verstanden hat und es mit anderen zu teilen.
Verstehen ist ein fundamentales Bedürfnis der menschlichen Seele und an Verständnis zu mangeln, kann schmerzhaft sein, umso grösser die Freude und Erleichterung, wenn man zu einer neuen Klarheit gelangt, besonders wenn sie etwas so Existentielles betrifft, wie den Glauben an Gott.
So gilt für die Theologie, dass sie eine Hebamme der Freude sei:
„Nicht dass wir Herren wären über euren Glauben, sondern wir sind Gehilfen eurer Freude; denn ihr steht im Glauben.“ (2 Kor 1,24.)
Dass für alle Gläubigen eine mindest Mass an Hirn unverzichtbar ist, darf nicht unterschätzt werden. Alles zu Prüfen ist der Auftrag eines jeden Christen (vgl. 1Thess 5,21) – aber wie soll man etwas kritisch auf die Probe stellen, wenn die Kenntnis dazu fehlt?
Das ist aber wichtig auch für die hörende Gemeinde, denn vielerlei Untheologisches, gar sehr Ideologisches, kann sich hinter der Maske einer Theologie verbergen. Unsere kirchlichen und pastoralen Reden sind genau so betroffen wie die akademischen.
„Weil in vielen unserer Gottesdienste nicht das Kreuz das Ärgernis ist, sondern der Programm ringsherum.“ (S. 5)
Wo Jesus nicht mehr die innere Sachlichkeit einer jeden Rede von Gott und eines jeden Nachdenkens von Gott ist – da hört sie auf überhaupt Theologie im christlichen Sinne zu sein.
Leider erliegt aber Spieker in seinem kurzen Aufsatz derselben Verwechslung:
Ärgernis sieht er nicht in der domgatischen Unterschlagung der geistlichen Wahrheit Jesu Christi, der am Kreuz starb. Sondern am Kreuz der Enthaltsamkeit, dem theologischen Substitutionprogramm einer rigiden Sexualethik.
Sexualethik als Nonplusultra
Es ist nicht verwunderlich, dass trotz des legitimen reformatorischen Anspruchs auch etwas von Spiekers – wie ich vermute – persönlicher kirchlicher Prägung quasi sich durch die Hintertür aufdrängt. Man achte vor allem auf den apokalyptischen Beiklang bei der befürchteten Auflösung der Heteronormativität.
„Die Kontroverse über Genmanipulation, Sterbehilfe, Glaubensfreiheit gehen ja erst los. Im sexualethischen Bereich herrscht schon jetzt das freie Spiel der Triebe. Die komplette Gleichstellung von Hetero- und Homo-Partnerschaft ist nur noch eine Frage der Zeit.“ (S. 4)
Fehlt nur noch die Klage darüber, dass zunehmend auch Frauen predigen oder pastoral arbeiten.
Aber Spass bei Seite, dass Spieker Gestaltungskraft und Veränderungswille und insbesondere moralische Integrität mit „Keuschheit“, sprich sexueller Enthaltsamkeit verschränkt, ging mir dann doch zu weit.
„Wir brauchen Menschen mit Veränderungswillen, Gestaltungskraft, Gottvertrauen und moralischer Integrität (‚keusch‘ wäre die dazu passende, nur scheinbar anachronistische Vokabel).“ (S. 6)
Denn Spieker meint das ernst! Das Erfolgsrezept für den Aufbau eines florierenden Reich Gottes sei nämlich eine strenge Sexualmoral, so scheint es zumindest:
„Die, deren Lebensraum das Häuschen am Meer und die Bibel auf dem Verandatisch ist, denen Gemütlichkeit vor Wahrhaftigkeit geht, fallen als Wegbereiter des Reiches Gottes aus. […] Und vor allem diejenigen Pfarrer und Jugendreferenten, die mit 35jähriger Verspätung den Atem der 68er heiss im Nacken spüren und die biblischen Moral-Maximen […] situationsethisch aufweichen.“ (Herv. d. RC, S. 6)
Bei soviel Dogmatismus wurde mir beinahe schwindlig. Als ob Keuschheit die Folge eines stramm vertretenen Verbots vorehelichen Geschlechtsverkehrs wäre.[8]
Moralisierung führt konsequent zu Ende gedacht zu Kriminalisierung – denn wer unmoralisch handelt, schadet anderen Menschen. Verhalten, das anderen unrecht zufügt, physisch oder psychisch schadet, gehört sanktioniert.
Das regelt in menschlichen Zivilisationen das Strafrecht. Moral, die sich etabliert und konkretisiert wird zur Norm – zur Rechtsnorm. Genau deswegen ist Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch jeglicher Art ein Strafbestand.
Aber wegen derselben Kräfte der Moralvorstellungen war im Westen bis vor 25 Jahren Vergewaltigung in der Ehe kein Strafbestand.[9] Schnell ist auch vergessen gegangen: In Deutschland war bis 1962 Sex vor der Ehe strafrechtlich verboten und bis 1969 Ehebruch ein Strafbestand.[10]
Geschlechtsverkehr, der auf Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit beruht stellt kein Unrecht im fundamentalen Sinne dar, mag jemand auch noch so viele Sexualpartner haben oder gehabt haben wie er will.
Subjektiv können der freiwillige oder unfreiwillige Verzicht und das ausschweifende Ausleben von Sex ganz unterschiedlich wahrgenommen und empfunden werden. Dies kann von erfüllend über alltäglich oder leer bis hin zu schädlich alles sein.
Objektiv ist Sex an sich nicht unmoralisch, im Gegenteil: Ohne Sex gebe es uns alle gar nicht – da wird Sex schon eher zur moralischen Pflicht. Dazu kommt die christliche „Konzession“, dass es ausschlisslich ausserhalb der Ehe unmoralisch sei – nicht jedoch in der Ehe.
Dabei macht eine Ehe-Schliessung den Geschlechtsakt nicht prinzipiell anders oder gar besser. Auch mit dem halbwahren Argument, dass die Bibel ein explizites Gebot zur monogamen Zweierbeziehung enthalte, kriegt man hier keine objektive Unmoral glaubwürdig gedacht.
Es sei aber gesagt: Diese fehlende objektive Sexualmoral der ehelich-rechtlichen Partnerschaft, macht sie als Prinzip darum nicht weniger legitim, ist sie doch weitestgehend universelle Praxis in der Menschheitsgeschichte.[11]
Moralisch begründen lässt sich die Ehe darum viel plausibler mit dem Motiv des Schutzes der Nachkommenschaft und der Bewahrung des gesellschaftlichen Friedens – m. a. W. soziologisch und kulturanthropolisch, statt theologisch.[12]
Und ganz nüchtern betrachtet, hat das Verbot von Sex ausserhalb der Ehe, weder das Verbrechen des Antisemitismus, noch die Barbarei der Weltkriege verhindert. Im Nachhinein betrachtet, hat die Repression und Supression menschlicher Intimität und Beziehung diesen Monstrositäten der Menschheitsgeschichte viel eher Vorschub geleistet als umgekehrt.
Angesichts dessen verstört mich der implizite Wunsch Spiekers nach „einem schrecklichen Gott“ (S. 6) doch sehr.
Schluss
Ich stimme mit Spieker darin überein, dass es wichtig ist, dass die „Eliten“ der Kirche, die best mögliche Bildung und Ausbildung erhalten sollten, dass diese sich kontinuierlich weiterentwickeln können und über empathie geschulte, kritisch-reflektierte und sowohl intellektuell als auch emotional inspirierend-begeisternde Hirne verfügen.
Es geht darum nicht an, esoterisch anmutende Parallelstrukturen aufzubauen, sondern bestehende Ressourcen zu nutzen und auszubauen. D.h., mehr Synergien mit öffentlichen Einrichtungen zu nutzen, kann sowohl für die Kirche, ihre kirchlichen Bildungsstätten, als auch für die Öffentlichkeit nur ein Gewinn sein. (Vgl. S. 7.)
Und viel wichtiger – wie Spieker selbst fordert –, junge, talentiert und begeisterte Christenmenschen in den Gemeinden möglichst früh auch intellektuell zu fördern.
Denn Gemeinde als der kostbaren Kinderschar Gottes, als seines eigener Leibes, sollte von berufenen Christenmenschen genährt und gepflegt werden, und die wiederum von der Kirche die best mögliche Qualifikaiton und Förderung erhalten haben.
Denn diese Christenmenschen sollen für ihre Gemeindeglieder und alle Menschen da sein, und ihnen zugunsten auch über die Kirchenmauern hinaus mit Potenz „vordenken“.
Diese sollen Hirn und Herz einsetzten, um den Sinn für die Schönheit, die in der Offenbarung Jesu Christi am Kreuz und in der Auferstehung liegt, in den Herzen der Hörenden zu schärfen. Diese sollen andere befähigen können, dieser Schönheit nicht nur in ihrem Denken, ihrem Reden Ausdruck zu verleihen und Gestalt zu geben, sondern auch in ihrem Handeln.
Denn nur Liebe kann die angemessene Antwort auf die Schönheit und Freude im Glauben sein.
Darum ist Bildung, im Sinne von konzentriert und langanhaltend nachdenken zu können, so wichtig für Spieker – weil es für die moralische Tatkraft der Kirche und letztlich der Gesellschaft erheblich ist, wie wir unseren Verstand nutzen.
Quelle von Dave Jäggi. ↩︎
Fallbeispiel Schweiz: „Hinsichtlich Geschlecht und Bildung sind die Evangelikalen im landesweiten Durchschnitt. Bezüglich geografischer Verteilung erscheint das Milieu als eher ›modern‹, befindet sich doch die Mehrheit der Freikirchen im urbanen Raum. Den größten Unterschied gegenüber der Gesamtbevölkerung finden wir bei der Familienstruktur.“ (Huber, Fabian; Stolz, Jörg: 3.2.3 Das evangelikale Milieu, in: Elwert, Frederik; Radermacher, Martin; Schlamelcher, Jens (Hg.): Handbuch Evangelikalismus, [Religionswisssenschaft 5], Bielefeld 2017, 275-388, 279.) ↩︎
2019: „Rund 18,5 Prozent der deutschen Bundesbürger verfügen über einen Bachelor oder höheren Bildungsabschluss.“ Wikipedia. ↩︎
Der am ISTL in Zürich wirkt. Das ISTL ist ein weiteres gutes Beispiel für eine lebendige Kultur der Bildung und Leadership Empowerments im evangelikalen Milieu. ↩︎
Ist vor allem als Dozent des EBTC bekannt. Er hat einen sehr intellektuellen Glaubenszugang und ist dezidiert evangelikal. Letztens habe ich einen Vortrag von ihm gehört, der mich inhaltlich sehr angeregt hat – auch wenn ich das meiste anders sehe. Spotify. ↩︎
Ist Schulleiter der evangelikalen FeG Hochschule und Prof. für Systematische Theologie. ↩︎
Vgl. Barth, Karl: Fides quaerens intellectum (1931), (KBGA 13), Zürich 3.Aufl. 2002, 16. ↩︎
Der Begriff keusch mag im Mittelalter „tugendhaft“ und „integer“ bedeutet haben, hat aber diese Bedeutung heute vollends verloren. Wird nur noch verwendet, um jemanden zu bezeichnen, der sexuell enthaltsam ist. Wenn man allerdings die Zahlen der aktuellen Kriminalfälle zu Kindesmissbrauch allein in Deutschland anschaut, wird einem flau im Magen und sogar liberale Gemüter wünschen sich mehr „Keuschheit“: „Mit 85 Terabyte sichergestellter Daten, das entspricht ungefähr 21 Millionen Fotos. Mit 48 befreiten Kindern. ‚Wir stoßen auf so viele Fälle, dass wir sie kaum noch bewältigen können‘, sagt der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul der ZEIT.“ Er erklärt, dass die zentrale Behörde für Cyberkriminalität in Köln von 30’000 digitalen Identitäten spreche. „30.000. In ganz Deutschland sitzen aktuell knapp 60.000 Menschen wegen aller möglichen Delikte in Haft, Drogenbesitz, Betrug, Totschlag – und nur ein Bruchteil davon für Sexualstraftaten.“ Die Zeit, 31/2020. ↩︎
In der Schweiz ist Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1992 strafbar, in Deutschland erst seit 1997. Link ↩︎
Siehe Monogamie bei Primaten. Siehe auch den Ted Talk der Sexuologin Jessica O'Reilly zu ihrem Monogamie stärkenden Konzept namens Monogamisch. ↩︎
Siehe hierzu Jorden Petersons Argumentation, Quellen dazu findet man auf seiner Webseite. ↩︎
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