Das lieblose Kreuz
Das Kreuz steht seit jeher als christliches Symbol für die Rettung aus dem Tod.
Wenn ich genauer hinschaue, irritiert es mich. Denn das Kreuz ist ein Folterinstrument, ein Scheusal menschlicher Kreativität – dass möglichst lange einen Menschen quälen soll, bevor er sterben kann.
Ich habe kein grundsätzliches Problem mit dem Kreuz als christlichem Symbol. Mich stören allerdings pauschalisierendes und oberflächliches Romantisieren des Kreuzes.
Wenn ich wieder mal Sätze lese oder höre wie diese: „Am Kreuz offenbart sich Gottes Liebe“ oder „Am Kreuz geschieht Vergebung für unsere Sünden“. Dann erhebt sich Widerstand in mir, gegen den Gedanken, dass an einem solchen Symbol, an einem solchen Folterinstrument menschlicher Grausamkeit – etwas Gutes sein könnte.
Wie ist es bei Dir? Regt es in Dir auch Widerstand, das Kreuz einfach mit Liebe gleichzusetzen?
Im folgenden Text teile ich mit Dir einen kurzen Gedankenweg über den Tod Jesu am Kreuz und darüber, wo ich die Liebe in diesem blutigen Ereignis trotzdem gefunden habe.
Der Mord am König der Welt
Jesus stirbt am Kreuz nicht einen zufälligen Tod, alle Welt soll sehen, dass er hingerichtet wird als König dieser Welt. Gott stirbt der Welt als König dieser Welt ab – sein Reich ist nicht von dieser Welt. Das ist die Botschaft Jesu: sein Reich ist nahe herbeigekommen, er regiert in den Herzen derer, die an ihn glauben – Glaube, Hoffnung, Liebe – und nicht über diese Welt.
Könnte es also nicht ein Denkfehler sein, wenn man am Kreuz die Liebe Gottes zu finden meint?
Ein solcher Denkfehler könnte daher rühren, dass Paulus Jesus als den Gekreuzigten zur Mitte seiner Verkündigung erklärte (vgl. 1Kor 1,23; 2,2). Theologen haben seither versucht, alles Mögliche auf dieses Kreuz zu beziehen.
Aber am Kreuz zeigt sich nicht die Liebe Gottes, sondern offenbart sich, wer Gott in dieser Welt ist – ein Verbrecher, ein Ausgestossener, einer, der den Tod verdient. Dort zeigt sich, was Gott in den Augen dieser Welt, in unseren Augen, ist: Eine Bedrohung. (Vgl. Lk 22,37)
Zwar ist das Kreuz Symbol unserer Gräuel und unseres Hasses gegen Gott und seine Liebe, mit der er sich uns zuwendet. Doch geschieht am Kreuz auch ein Wunder – Selbsterkenntnis und Vergebung.
Erst das Leben und Handeln des gekreuzigten Jesus führen uns etwas ganz anderes vor Augen, als unser Foltern und Kreuzigen. Das Kreuz Jesu weist über unsere Tat hinweg auf das Leben dieses Gerechten, der am Kreuz hing.
Es zeigt sich in Jesus Christus die Liebe Gottes (Hebr 12,2).
Jesus ist die Liebe, er als Person, als handelnder Mensch, als Gottes Sohn und zu ihm sollen wir aufschauen, nicht zum Kreuz an sich.
„Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete [...].“
– Die Bibel, Hebr 12,1b-2
Liebe jenseits des Kreuzes
Es ist also nicht das Kreuz, sondern der „Kampf“ Jesu. Er kämpfte mit radikaler Liebe gegen den Hass und den Tod in unserer Welt. Er kämpfte ohne Gegenhass, so radikal in der Liebe, dass er nicht mit Zorn oder Rache gegen seine Peiniger ankämpfte. So hat er uns „ein Vorbild“ der Liebe hinterlassen, wie es Petrus formuliert (1Pet 2,21).
Er ist die Liebe, die am Kreuz hing,
„er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem anheimstellte, der gerecht richtet;“
– Die Bibel, 1. Petrusbrief 2,22-23
Aber zeigt sich seine Liebe in der Passion wirklich erschöpfend? Worin erkennt man seine Liebe? Worin zeigt sich die Liebe Gottes in diesem Menschen Jesus, der als Verbrecher unschuldig am Kreuz gerichtet wurde?
La Via Dolorosa
- Seine Liebe zeigt sich darin, dass er dies mit sich machen liess. Er hätte auch einfach gehen können, in göttlicher Macht fliehen, zürnen und vergelten können. Stattdessen ging er den Weg der Schmerzen, nicht er tat sich das an, sondern die Menschen, für die er kam, taten ihm das an. Und er umarmte sie mit ihren Untaten, er floh nicht, sondern konfrontierte sie mitten in ihrer Untat, indem er es ertrug – das war mehr als tausend Worte hätten sagen können.
Einer, der sich ganz in die Hand der Menschen begibt, ein Gott, der sich nicht der hässlichen Seite des Menschen entzieht, sondern sie erduldet und umarmt.
„God's preferential option for the poor and oppressed“
- Seine Liebe zeigt sich darin, dass er zu den Marginalisierten, Unpriviligierten und Verstossenen ging – sein Königtum gilt ihnen ganz besonders. Seine Passion ist die, dass er sich identifiziert mit denen, die Unrecht erleiden, die keinen Fürsprecher haben, die unschuldig gerichtet, verspottet, ausgestossen und getötet werden. Er wurde eins mit denen, denen zu Unrecht Gewalt angetan wird, er geht ihren Weg. Er setzt sich mit ihnen gleich.
Ist Christus mein Leben, ist Sterben mein Gewinn (Phil 1,21)
- Seine Liebe zeigt sich darin, dass keiner ausgeschlossen ist, Jesus heilt arm wie reich, Gewalttäter wie Opfer, er nimmt jeden an, der an ihn glaubt und sieht in jedem Menschen das Potenzial zur Umkehr – er schenkt ihnen den Ausweg aus der Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit, die Umkehr in die Nachfolge[1] – Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Jesus gibt mehr als eine Möglichkeit, er gibt uns einen Weg in eine andere, bessere Wirklichkeit.
Umkehren und Jesus nachfolgen, bedeutet mein Leben zu geben für andere, d. h., mein Leben nicht festzuhalten als einen Götzen, sondern das wahre Leben im anderen, im Nächsten zu sehen – Liebe heisst immer, den anderen höher zu achten als sich selbst, das Leben des anderen zu heiligen, mehr als das eigene. Darum ist Sühne eine Folge der Vergebung, nicht umgekehrt.[2]
Die Heiligkeit des Lebens als Akt
Das Feuer, das Vergebung verwirklicht, ist die Liebe – die wahre Liebe begegnet uns in Jesus Christus selbst, nicht am Kreuz – das Kreuz ist vielmehr Symbol menschlicher Lieblosigkeit und Schwäche.
Wir verehren Jesus, der den ungerechten, ungerechtfertigten Tod erduldete, trotz Gottverlassenheit, trotz Verzweiflung. Darum nimmt er am Kreuz unsere Sünden, weil er selbst die grösste Ungerechtigkeit erträgt und sie nicht anrechnet (Lk 23,34).
Es kann keine grössere Ungerechtigkeit geben als diese ungerechte Hinrichtung des Heiligen und trotzdem verzichtet Gott auf die Rache, um seines Sohnes willen.
Darum ist die Welt gerettet, er war kein Scharlatan, er war wahrlich die Erfüllung seiner eigenen Predigt – siehe, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! (Vgl. Joh 11,25f; 8,51 usw.) Jesus bringt den Anfang vom Ende, er lehrt uns, dass unser Herz wichtiger ist als das Leben selbst – nicht das Leben selbst ist heilig, sondern unser Umgang miteinander, unsere Haltung und unser Glaube sollen heilig sein, das, was das Leben[3] ermöglicht, was leben gibt, ist heilig.[4]
Das steht nicht konträr zum philosophischen Konzept der Würde des Menschen, das der Person gewidmet ist und diese für unantastbar erklärt.
Aber die Heiligkeit des Lebens bedeutet mehr, als nur zu existieren. Es bedeutet, als Person zu handeln, dem Leben gemäss zu agieren, zu tolerieren und zu lieben – sie konstituiert die Würde des anderen, diese Würde lässt sich nicht erzwingen, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden, sie muss zugesprochen werden.
Anders als es oftmals denen widerfährt, die nach Europa fliehen. Zwar wird ihnen ihre Würde nicht abgesprochen, aber gleichzeitig werden sie auch nicht wirklich mit Würde behandelt, stattdessen werden sie in Lagern auf griechischen Inseln festgehalten oder im Mittelmeer dem Ertrinken überlassen.[5]
Dort wird die Würde des Menschen zu einer unheiligen Selbstvergewisserung des eigenen Lebensrechts vor dem anderen. Eine Farce, eine Lüge, die wir uns selber erzählen, die wird erfunden haben, um uns selbst zu schützen, vor denen, die unsere Würde in Gefahr bringen, uns den Tod mitbringen könnten, vor dem sie fliehen.[6]
Liebe ist nicht am Kreuz
Gerade den Tod hat Christus überwunden, er ist mitten in ihn hinein gegangen und trotz dessen zurückgekehrt. Der Tod konnte ihn, als den, der er ist, nicht halten und der Tod wird auch diejenigen, denen er dieses Leben jenseits des Todes zuspricht, nicht festhalten können.
Der Tod ist darum keine Macht mehr, die unser Handeln, unser Leben hier und jetzt einschränken muss, sondern im Leben und Sterben „sind wir des Herrn“ (Röm 14,8) – gehören wir dem unzerstörbaren Leben (vgl. Hebr 7,16).
Glaube ich an diese Wirklichkeit jenseits des Kreuzes, dann bin ich frei vor der Angst in dieser Welt. Die Angst verschwindet nicht einfach, ich werde nicht einfach zu einem Menschen der keine Angst mehr empfinden kann. Aber die Angst hat keine endgültigen Gründe mehr gegen mich. Der Tod als letztes Argument, als Drohung gegen meine Freiheit: Er, dieser Tod, ist es, der eigentlich und letztlich tot ist.
Am Kreuz hat der Tod seine Macht verloren!
Die neue Freiheit ist im Glauben an den Jesus jenseits des Kreuzes. Das ist unsere Kraft gegen Ungerechtigkeit aufzustehen. Jesus befreit und ermächtigt uns Menschen, anderen Menschen Würde zuzusprechen und zu geben. Auch wenn es bedeutet, dass wir unsere eigene Freiheit riskieren – die Freiheit, die Gott uns gibt, kann kein Mensch uns nehmen.
Paulus begegnet dem Licht jenseits des Kreuzes
Paulus hat es uns vorgemacht, als Jude ging er zu den Heiden und wurde darum von Juden gehasst und bis zum Tod verfolgt (vgl. u.a. Apg 23,12).
Aber das war nicht immer so, Paulus, einer der Hauptverfasser des Neuen Testaments, war zuerst ein bitterer Feind des christlichen Glaubens. Als „gerechter“, frommer Jude verfolgte er die „ungerechten“, abtrünnigen und sektiererischen Christen.
Dann auf einer seiner Verfolgungsreisen begegnete ihm Jesus Christus (Apg 9; Apg 22,7) – der Mann, den er für tot glaubte, den er gekreuzigt sah.
Diese Begegnung veränderte für ihn alles. Er begann Jesus nachzufolgen, diesen Jesus zu verkündigt und diente fortan der christlichen Gemeinde mit seinem eigenen Leben, der Gemeinde, die er zuvor verfolgt hatte bis zum Tod.
Um die Botschaft von diesem Jesus zu verbreiten, riskierte Paulus zig Male sein Leben, aber verlor dabei nie den Mu und verzweifelte nie in Angst. Denn er war getragen von Frieden, weil seine Freiheit, sein Leben nicht ihm selbst gehörten, sondern seinem Herrn Jesus, der ihm unzerstörbares Leben gab (vgl. Hebr 7,16).
Ihm, dem Verfolger und Eiferer Saulus, der als letzter verdient hätte, ein Leben unter und für Christen zu führen. Paulus wusste es und bekannte es im Korintherbrief:
„Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.“
– Die Bibel, 1. Korinterbrief 15,9
Paulus gab alles zurück, er wusste, wieviel Schuld ihm vergeben wurde, wie schwer die Gnade auf seinen Schultern wog (vgl. Lk 7,41f.47; Mt 11,30).
Darum liebte Paulus viel und darum trieb es ihn zu den Heimatlosen, die in dieser Welt keinen Platz finden. Und darum verkündigte er unermüdlich die Botschaft, die über diese Welt hinausweist und immer wieder zurück zu dem am Kreuz gemarterten Gott führt.
Der himmlische Herrscher – Verspottet
Die Botschaft der Liebe Gottes in Jesus Christus, der für alle Menschen sein Leben gab, indem er als Mensch in diese Welt kam und vom himmlischen Despoten zum irdischen und ungerecht Gekreuzigten wurde – sein Spottbild, das Kreuz, wurde so zum Symbol für das Leben selbst.
Ich glaube, dass am Kreuz unser Gottesbild eines bösen und zornigen Gottes, der mit Opfern, Frömmigkeit und Gesetzen besänftigt werden muss, stirbt.
Denn heute empfindet es manch einer so, dass der Gott des Alten Testamentes ein willkürlicher, gefährlicher Gewaltherrscher ist, der zürnt, wann er will und gegen wen er will.[7]
Dieser Gott, dieser Weltenherrscher ist tot.[8] Seine Herrschaft endete am Kreuz, als die Zeit der Gnade begann.
So verheisst Gott im Alten Testament durch den Propheten Jesaja über den Messias, dass er „erhöht“ werden wird und damit die „Zeit der Gnade“ einläutet:
„Ich habe dich erhört zur Zeit der Gnade“
– Die Bibel, Jesaja 49,8[9]
Und so sieht Paulus in Jesus Christus diese Zeit aufgehen, wie das Morgenrot eines neuen Tags, sieht der letzten Verwirklichung dieser Zeit der Gnade entgegen, die heute bereits beginnt. Siehe, das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“
– Die Bibel, 2 Korintherbrief 6,2
Die Überraschung kommt zuletzt
Das Kreuz spiegelt sowohl die Hässlichkeit unserer Realität, unsere Bosheit und Ungerechtigkeit angesichts des Gerechten und Guten, wie auch die, in Jesus ertragene und getragene, Vergebung und Erfüllung.
Er ist der Anfang vom Ende, das Leben nach dem Tod, die Gerechtigkeit in der Ungerechtigkeit, der Richter, der gerichtet wird, der Heilige, der anstelle des heillosen Mörders stirbt.
Das Kreuz gibt nicht Jesus Bedeutung, nicht der Tod am Kreuz hat Kraft, sondern Jesus, der gekreuzigt wurde und starb, gibt, den zu Unrecht Gekreuzigten dieser Welt, Bedeutung, weil er bedeutsam ist.
Das Kreuz dagegen ist vielmehr die Last dieser Welt, die er ertragen hat. Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir auf das Kreuz in der Kirche blicken:
Liebe ist nicht am Kreuz, aber jenseits davon, in dem Menschen Jesus Christus, der nicht geendet hat mit dem Tod an diesem Kreuz.
Sondern er beginnt neu mit dem Leben aus dem Geist – Jesus ist auferstanden und seine Auferstehung hat das letzte Wort, nicht das Kreuz. Die Schuld ist vertilgt, weil Jesus auferstand.
Darin offenbart sich Jesus als Gott in Person. Er ist die Liebe.
Die Geschichte am Kreuz endet nicht mit dem Kreuz, sondern damit, dass Jesus nicht mehr im Grab liegt. Er hat den Tod besiegt. Er ist der Held, der sich nicht zu schade war, mit und für die Geächteten, für die Verbrecher und Schuldigen dieser Welt zu sterben. Und er starb durch unsere Hand, der Menschenhand.
Symbol der Christenheit
Es ist das nackte Kreuz, dass unsere Sünde und Ungerechtigkeit bloßstellt. Es ist das Symbol einer Religion, die nicht auf eigenen Lebenswandel und Selbstgerechtigkeit bauen soll, sondern auf den Menschen Gottes, den selbst dieses von Menschenhand geschlagene Kreuz nicht im Tod halten konnte.
Keine religiöse Heiligkeit und Rechtgläubigkeit, keine moralische Reinheit und Gerechtigkeit, keine optimierte und nachhaltige Lebensführung könnte uns Leben nach dem Tod geben.
Das Kreuz ist ein Skandal, weil es all denen gilt, die glauben, sie könnten ihm entkommen – dem Kreuz des Todes, der röchelnd an unserem Nacken nach uns allen begehrt.
Es ist das Symbol von Gottes Gnade über diejenigen, die keine verdient haben, die aus reiner Güte und Gnade im Glauben gerechtfertigt sind und symbolisch mit Christus gestorben sind am Kreuz. Die sich ihre Hilfsbedürftigkeit und Schwäche vor Mensch und Gott eingestehen.
Jesus Christus gibt Leben, wie er will und ist gnädig, wem er will. Er ruft alle Menschen zu sich:
„Niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
– Die Bibel, Matthäusevangelium 11,27-28
Mein Fazit
Ich glaube, wir Christen haben es uns am Kreuz zu bequem gemacht. Das Kreuz ist für uns so selbstverständlich geworden wie das Aufgehen der Sonne am Morgen. Aber Paulus nennt das Kreuz nicht umsonst einen Skandal, eine Dummheit (1Kor 1,23).
Mich macht das Kreuz sprachlos. Es entsetzt, wie das Sterben seinen Schrecken nie ganz verlieren wird – wieviel Hoffnung man auch in sich trägt. Werden wir von Menschen getrennt, die wir wirklich und zutiefst lieben, wird uns das nie kaltlassen, so etwas wird uns nie selbstverständlich vorkommen.
Und so darf auch der Tod Jesu am Kreuz keine Floskel werden, keine Anekdote am Ende einer Predigt, keine Plattitüde der Gleichgültigkeit oder der Gewohnheit.
Dass der Heilige am Kreuz stirbt, finde ich obszön, widerlich, erschreckend – düster, dunkel und hoffnungslos.
Der Tod Jesu ist eine Obszönität, ein Witz der Weltgeschichte, ein aufblitzendes und widerliches Grinsen des Bösen in uns – Blasphemie.
Im Glauben an Jesus sind wir gerettet. Aber nicht, weil Jesus sein Leben opfern musste, damit Gott uns unsere Sünden vergeben konnte. Gerade, dass Jesus sich selbst hingab, dass er es geschehen liess, selbst Opfer von Gewalt wurde, ist Ausdruck, Bestätigung und Proklamation von Gottes bedingungsloser und diesem Ereignis vorausgehender Vergebung. Er beendete damit den Opferkult.[10]
Jesus rettet uns, weil er uns frei macht. Er war frei, als Gott Mensch zu werden, Vergebung, Barmherzigkeit und Liebe zu leben und sich als einen Verbrecher richten zu lassen.
Wir sind nun frei durch ihn, es ihm gleichzutun und ihm nachzufolgen. Wir sind frei geworden durch Jesus, frei von der Angst dieser Welt (Joh 16,33).
Jesus – die Abscheulichkeit seines Kreuzes und die Schönheit seines Lebens und Auferstehens, retten uns vor unseren eigenen Allmachtsfantasien, unseren Aberglauben selbst Göttern gleich zu werden, Freiheit mit Asäitet, mit grenzenloser Unabhängigkeit gleichzusetzen und andere unserer Freiheit zu unterwerfen.
Ich bin überzeugt, wer das Kreuz so gesehen hat und an Jesus glaubt, ist frei geworden vor dem Abgott der Freiheit. Frei von einer Freiheit, die man sich selbst geben muss, die man sich vermeintlich auf den Altären der Religion mit Opfern verdienen kann, die man selber erarbeiten und erreichen muss, dessen Knecht ich letztlich geworden bin.
Das Kreuz nagelt uns an die Realität, lässt keinen Platz für Romantisierung, lässt pathetische Verklärungen des Todes hohl und leer und klischeehafte Phrasen über Sündenvergebung zynisch klingen.
Der Tod am Kreuz ist absolut. Am Kreuz gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Gerichteten und Gerechtfertigten, zwischen Hölle und Himmel, am Kreuz ist die Dualität der Welt aufgehoben, am Kreuz geschah, was eigentlich nicht geschehen kann, wir töteten Gott.
Aber blicken wir in diese Leere, in das Dunkel – strahlt uns jenseits davon ein Licht entgegen, das immer heller scheint.
Das Licht der Hoffnung, das Licht, das diese Dunkelheit überwunden hat. Das nicht davon verschlungen werden konnte, ohne zurückzukehren, heller und breiter zu leuchten als zuvor.
Dieses Licht ist Jesus in seiner Offenbarung, in seiner Auferstehung, in diesem Licht berührt, umarmt und begrenzt er unsere Dunkelheit absolut.
Das, glaube ich, rettet uns!
„In der Auferstehung berührt die neue Welt des Heiligen Geistes die alte Welt des Fleisches. Aber sie berührt sie wie die Tangente einen Kreis, ohne sie zu berühren, und gerade indem sie sie nicht berührt, berührt sie sie als ihre Begrenzung, als neue Welt.“
– Karl Barth, Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, KBGA 47, 2010 Zürich, 51f.
Ausblick
Für mich ist die Frage allerdings noch nicht abgeschlossen. Was ich hier als relativ spontanen Gedankenstrom entfaltet habe, verdient eine tiefere Untersuchung und Befragung des biblischen Textes. Zwar ist für mich deutlicher geworden, dass die Person Jesu selbst das rettende Subjekt und sein Erscheinen entweder das Moment der Rettung selbst, oder die Erschliessung der immer schon präsenten, rettenden Wirklichkeit Gottes war.
Ich möchte aber auch den weiterführenden Fragen nachgehen:
Vor 1) was wir gerettet werden, 2) inwiefern diese Rettung gilt oder bedingt ist, 3) was sie umfasst und welche Dimensionen sie erfasst – all diese Fragen sind für mich zwar in den Glaubenssätzen des Glaubensbekenntnisses ausgesagt, bejaht und geglaubt, aber für mich noch nicht erschöpfend verstanden.
Fides quaerens intellectuum.
Was mich unwillkürlich an den Film Seven Pounds erinnert. ↩︎
Der hebräische Begriff, den Luther gemeinhin als Sühne übersetzte (vgl. Lev 4,35), umfasst auch die Bedeutung des Zudeckens. Sünde wird zugedeckt. Aber der Wille Gottes zur Vergebung, sein Zuspruch der Vergebung geht dem Sühnekultus im Tempel voraus. ↩︎
Das Leben als Möglichkeit zur Liebe, zur Achtung, zur Erkenntnis und zum Glauben. ↩︎
Ich überlege, ob man hiermit begründen könnte, dass Kampf und Krieg gegen diejenigen Ideologien und Menschen, die diese Heiligkeit mit Füßen treten, sie verunmöglichen oder sogar pervertieren, gerechtfertigt sein könnte? Könnte es sein, dass die Konsequenzen, sie nicht zu bekämpfen für das Leben schlimmer wären, als sie einfach stehenzulassen? Ich denke an den Bann, nach dem Exodus, an Kanaan oder an Operation Overlord im Zweiten Weltkrieg. Die Welt floh – in Analogie zur Exoduserzählung – vor der Sklaverei und der Monarchie und musste am Ende dieser Geschichtslinie ihr NS-Deutsches Kanaan bannen, die dämonische Verkörperung als dessen, was die Welt hinter sich lassen wollte – war das nicht ein Vorgeschmack auf Armageddon? ↩︎
Das Lager Moria – gebaut für 2.800 Menschen – auf der griechischen Insel Lesbos, umfasste zwischenzeitlich (März 2020) 20.000 Asylsuchende. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Flüchtlingslager_Moria ↩︎
Siehe Frontex und die menschenrechtlich bedenklichen Methoden und die zunehmende Aufrüstung dieses Unternehmens zum Schutz der EU-Aussengrenzen. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Frontex ↩︎
Damit will ich nicht sagen, dass so der biblische Befund sei, sondern explizit wie es von vielen Lesern und Predigthörern empfunden wird, wenn sie das Alte Testament lesen oder davon hören. ↩︎
Man mag Gott im AT als Despoten deuten können, weil es ja, auch eine Welt der Gewaltherrscher war, der Könige und Feldherren. Man möge nur einmal an den Bann an ganz Kanaan denken. Selbst wenn man bedenkt, dass diese möglicherweise durch das Opfern von Kindern im religiösen Kult, das Gericht Jahwes auf sich gezogen haben. So sind auch die vielen Kriege und Schlachten unter König David nicht gerade Zeugnis eines friedlichen Gottes. Damit möchte ich gar nicht ausblenden, dass es schon in der Tora Friedens- und Heilsverheissungen für alle Völker gibt. Aber das Gefühl im AT sei ein kriegerischer Gott am Werk, hat schon auch eine Basis in der Schrift. Gerade dieser Kriegsgott, der Jahwe ja auch sein konnte, legt seine Waffen nieder. Er gibt sich selbst an die Welt und lässt sich richten. Wofür? Möglich wäre eine Deutung, dass Gott ‚sühnt‘ für seine eigenen Versäumnisse und Taten: „Gott leistet in der Menschwerdung die Satisfaktion [Sühne] für seine eigene Schöpfungstat, indem er sich als Sohn das zumutete, was er allen Menschen zumutet: Ein Leben, das nicht nur voller Schönheit und Lust sein kann, sondern auch ungeheure Abgründe bereithält. Wenn man so will, ‚sühnt‘ Gott sein riskantes Schöpfungswerk, und er gibt zugleich Hoffnung auf Zukunft.“ (M. Striet, Erlösung durch den Opfertod Jesu?, in: M. Striet / J.-H. Tück (Hg.), Erlösung auf Golgata?, Freiburg i. Br. 2012, 11-31, 23, zit. nach Gisbert Greshake, Warum lässt Gottes Liebe uns leiden?, Freiburg i.Br. 2017, 86.) ↩︎
Vgl. hierzu, dass Christus erhöht wurde am Kreuz (Joh 3,14), durch die Auferstehung aufgefahren ist in den Himmel und erhöht wurde über alles hinaus, was wir zu denken vermögen. (Siehe Phil 2,9; Apg 2,33; Eph 1,20f.; Hebr 1,3f.) ↩︎
Die biblischen Texte geben Zeugnis davon, dass Jesus Lösegeld, Erlösungsmittel war (Jes 53,10-12; Mk 14,45; 1Tim 2,6; 1Pet 1,18f.). Keine dieser Stellen jedoch stellt das Schuldopfer für die vielen Sünden als Voraussetzung von Vergebung hin. Siehe Ps 130,4 Vergebung ist bei Gott. Lk 1,77 bestätigt m.E., dass uns das Kreuz die Vergebung Gottes nochmals in aller Deutlichkeit erkennen lassen soll. Ich halte die vulgäre Vorstellung des Sühneopfers Jesu, dass erst im Opfer Vergebung der Sünde geschieht, für eine dogmatische Fehldeutung. Das Bild des Schuld- und Sühnopfers kommt aus dem Opferkult des Alten Testaments und war kein Instrument, um Gott zu beschwichtigen oder das magisch Schuld in Unschuld verwandelte. Sondern das Opfergesetz Jahwes war die Verwandlung und Begrenzung menschlicher Religionssitten und damit eine verwandelte Gabe Gottes an das menschliche Bedürfnis Vergebung fest machen zu können, Sühne und Genugtuung symbolisch real zu vollziehen. Das entsprach und entspricht vermutlich noch heute dem Bedürfnis Schuld aufzuwiegen. Nicht Gott benötigt die Opfer, sondern wir Menschen brauchen sie. Jesus ist ja nicht buchstäblich auf einem Altar geopfert worden oder hat sich selbst auf einem Altar geopfert, sondern ist von den jüdischen Religionsführern und Priestern dem Tod ausgeliefert worden, weil er mit seiner vermeintlich
„blasphemischen“ Lehre, die den religiösen Betrieb, die klerikalen Hierarchien und Praxis infrage stellte, und damit die religiöse Führung als solche infrage stellte. Die von Gott eingesetzten Opfer sind symbolischer Natur, denn Gott „vergibt, wem er will und wann er will“ (vgl. Ex 34,19; Röm 9,18), das waren die Opfer der Heiden nicht, von ihnen sollten ontische, wirkliche, magisch die Gottheit beschwörende Effekte ausgehen. Das Opfer Jesu am Kreuz wurde selbst zum Symbol des Sühneopfers, weil er das Ende des Opfer- und Reinheitskultes bedeutet (vgl. zum Opferkult: Hebr 7,18.27 u.a.; zum Reinheitskult: Hebr 9,12-14 u.a.). ↩︎