Das Kreuz mit der Frau

Dürfen Frauen in der Kirche predigen? Mich beschleicht der Eindruck, diese Frage ist nicht in vielen Gemeinden aktuell. Weil es für viele freikirchlich-evangelikale Gemeinden klar scheint, Predigtamt und Pastoralamt sollen Männern vorbehalten sein, wie es in der Bibel der Kirche aufgetragen ist.

Ich sehe das anders.

Die Bibel mit anderen Augen lesen

Warum stellt man sich überhaupt diese Frage?

Den Ursprung dieser Frage, sehe ich in einer Lektüre der Bibel, die buchstäbliche Anweisungen umsetzten möchte und jede Abweichung von einer buchstäblichen Lesart der Bibel tendenziell als Verrat an der Bibel deutet.

Nämlich überreagierten viele pietistisch geprägte Theologen der letzten Jahrzenten auf vermeintlich liberale und destruktive Bibelkritik oft mit einem ebenso vermeintlichen buchstäblichen Verständnis der Bibel. Indem sie die Anweisungen des Paulus nicht selten wortwörtlich als Anweisung auch für unser heutiges Gemeindeleben lasen.

D. h., Bibelverse des Paulus wie die folgenden werden wortwörtlich auf das Gemeindeleben von heute angewendet:

Ich gestatte es einer Frau nicht, vor versammelter Gemeinde zu lehren und sich damit über die Männer zu stellen; sie soll sich vielmehr still verhalten.
– Die Bibel, 1Tim 2,17 (NGÜ)
Wie in allen Gemeinden derer, die zu Gottes heiligem Volk gehören,
sollen sich auch bei euch die Frauen während der Zusammenkünfte still verhalten. Es ist ihnen nicht erlaubt, das Wort zu führen; vielmehr sollen sie sich unterordnen, wie es auch das Gesetz vorschreibt.
– Die Bibel, 1Kor 14,33f. (NGÜ)

Eine solche Lektüre der Bibel, hat vergessen, dass die Bibel Zeugnis ist. Ebenso Zeitzeugnis einer Gesellschaft, die uns heute fremd ist. Im Rom der neutestamentlichen Zeit waren Familienväter die Könige ihrer Familie. Sie regierten über die kulturellen und politischen Institutionen, wie über ihre Familien. Allein die Männer hatten Rechte, und nur die Väter hatten die alleinige Gewalt über ihre Familien-Clans.

Die Bibel gibt aber nicht nur Zeugnis von der römischen Zeit, sondern sie gibt Zeugnis von einer ganz besonderen Zeit. Der anbrechenden Gnadenzeit. Ebenso ist die Bibel Zeugin eines unvergleichlichen Ereignisses. Dem Ereignis, das der verhüllte und verborgene Gott, dessen Name im Tempel zu Jerusalem wohnte, Gestalt, Fleisch, ja Mensch geworden ist und sich in der Person Jesus Christus als dieser verhüllte und verborgene Gott enthüllte und offenbarte. Als der Gott der für uns Menschen ist, hat er sich der Welt offenbart.

Darin offenbart sich auch die Gerechtigkeit Gottes (Jes 4,18; Jak 2,5f.):

„God's self-disclosure was the disclosure of a self, not merely a disembodied rational mind, and that Jesus' revelatory declaration in the Gospel of Luke was not the disclosure of some new information but the uncovering of the God's preferential option for the poor and oppressed.“
– James H. Evans, Jr

Die besondere Moralität Gottes

Was tun wir, wenn wir Menschenrechte ratifizieren, weil wir die Ungerechtigkeit der Weltkriege und Ideologien, der Diktatoren und Volkskorrekturen nie mehr wieder haben wollen; wenn wir Frauen Wahlrechte geben, weil wir an Demokratie und Gleichheit vor dem Recht für alle Menschen glauben und dann trotzdem Unterschiede machen – trotzdem in der Religion, im Glauben einen Unterschied machen. Sind profane und sakrale Moral so unterschiedlich?

Ich denke nicht. Aber wenn sich kirchliche Moral unterscheiden sollte, dann an diesem Punkt:

Ich glaube, dass Gott immer zuerst auf der Seite der Opfer, der Diskriminierten und Unterdrückten steht!

Natürlich nicht nur. Aber was hat das Kreuz, sonst für einen Sinn, als das sich Gott solidarisiert mit den Schwachen, mit den untersten Klassen und Kasten unserer Gesellschaft, mit dem Pöbel, mit den Sündern und Sünderinnen, mit den Opfern von Gewalt und Ausgrenzung, von Krieg und Flucht. Ist er nicht ein Gott, der neue Heimat gibt, der Heilung und Vergebung bereithält und jedem neues Leben und neue Kraft geben will? Wie könnten wir sonst unseren Unterdrückern und unseren Gewalttätern je vergeben, wie könnten wir uns selbst vergeben?

Nur, wenn ich meinen Wert von dem bekomm, der alle Macht hat, dem König aller Könige, der auf meiner Seite steht, der gegen alle Bösen und Ungerechten Gericht halten wird. Der König aller, der sich als solcher trotzdem in der Weise mit den Armen und „Schwachen“ solidarisiert, dass er sich wie einer von ihnen, von den vermeintlich Starken – offensichtlich zu Unrecht – erniedrigen und töten lässt. In ihm haben Geflüchtete, haben People of Color, haben queere Menschen und haben randständige, haben sozial schwache oder benachteiligte Menschen einen Fürsprecher und Hirten. Nur dann haben alle Menschen allen Grund anderen zu vergeben. Denn, dass dieser König aller Könige sich auf meine oder deine Seite geschlagen hat, ist alles andere als rational oder logisch erklärbar. Das ist Gottes Gnade.

Ob Frauen in der Kirche predigen dürfen, oder nicht? Das scheint mir aus der Perspektive der Vergebung Gottes nur noch eine Frage der Herren, der Privilegierten, der sanften Unterdrücker zu sein. Derjenigen, die nicht wissen oder wissen wollen, was es heisst, wegen eines Merkmals, das man selbst nicht gewählt hat, in das oder mit dem man geboren wurde, von anderen schräg angeschaut oder sogar benachteiligt und eingeschränkt zu werden.

In Gottes Reich gibt es keine Opfer oder Unterdrückte mehr, weil Gott in den Schwachen mächtig ist. Sein eigenes Schicksal im Unrecht in die Hand zu nehmen, aufzustehen und für sich einzustehen, das kann nur ein Mensch, der nicht allein, der nicht einfach ein Unterdrückter, ein Opfer ist, sondern einer der geliebt, der getragen und aufgehoben ist bei Gott. Und Frauen sind solche von Gott geliebte, getragene und aufgehobene Menschen – Frauen sind keine Opfer, Frauen sind stark und von Gott ermächtigt frei zu sein, aufzustehen und ihren Weg zu gehen. Neben den Männern und nicht unter ihnen.

Nicht weinen – rational argumentieren

Mich irritiert es, dass es immer noch Rufe nach einer „sachlichen“ Debatte oder Argumentation zu diesem Thema gibt: Man bräuchte gute theologische Argumente, man müsste sich an der „Wahrheit“, an der Bibel orientieren und dürfe sich nicht von seinen Emotionen (ver-)leiten lassen.

Aber dieser Ruf übersieht, dass es in der Theologie nicht primär um Ethik, Moral und Werte geht – zumindest nach meiner Auffassung nicht. Es geht zuallererst um Gott, um seine Geschichte – um „die grossen Taten Gottes“ (Apg 2,11).

Eine solche Abgebrühtheit gegenüber den Gefühlen anderer Menschen tut sogar Gewalt an. Denen, die eine solche Haltung, eine solche Theologie als Unterdrückung, als Benachteiligung als Abwertung erleben.
Eine solche Nüchternheit ist empathielos und d. h., sie ist lieblos.

Photo by Ruben Cadonau / Dogmathink

Emotionen und Gefühle sind nicht prinzipiell weniger wahr als rationale und logische Argumentationen, nicht prinzipiell weniger wahr als die Bibel, als Offenbarung von Wahrheit. Denn auch rationale und logische Argumentationen sind nicht prinzipiell wahr, nur weil sie rational und logisch sind. Sie sind innerhalb einer bestimmten Rationalität oder Logik kohärent und logisch, d. h. rational und logisch wahr. Dasselbe gilt auch für Gefühle und Emotionen. Sie sind für den Menschen, der sie erlebt, wahr, wirklich und schmerzvoll – viel realer als es rationale und logische Gedanken sein könnten.

Frauen abzusprechen, dass ihre erlebte, gefühlte Abwertung ungerecht, unwahr, unzutreffend sei, weil sie sich an der rationalen Wahrheit der Bibel orientieren sollten und nicht an ihren verletzten Empfindungen. Das finde ich schlicht kaltherzig. Selbst nach rationalen und logischen Maßstäben finde ich ein solches Kalkül empathielos.

Wer kann mit Recht behaupten, dass sich Frauen, die sich wehren, die ihre Stimme erheben, die argumentieren und sich exponieren, dass diese sich dabei nicht an der biblischen Wahrheit orientieren würden? Entspricht denn nicht die Präambel der Bundesverfassung in der Schweiz dieser Biblischen Wahrheit:

„gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Vol­kes sich misst am Wohl der Schwachen“
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft

Ich glaube es und bin mir sicher, dass auch mit der Bibel keine Argumentation zur Diskriminierung gemacht werden kann, die nicht mit der ganzen Botschaft der Bibel in Dissonanz, in Widerspruch gerät. Im Gegenteil, mit der Bibel kann nur für die „Schwachen“ Partei ergriffen werden, nur zur Befreiung aufgerufen werden. Mit der Bibel macht nur eine solche Argumentation wirklich Sinn.

Frauen im Reich Gottes

Frauen dürfen und sollen predigen, sollen und dürfen als Pastorinnen, Pfarrerinnen oder Predigerinnen in Kirchen dienen.

Aber nicht nur das, sondern man darf es ihnen vielmehr auch nicht verbieten. Vielmehr ist es ein Widerspruch zur Wahrheit der Bibel, es ihnen zu verbieten oder sie von der Ausübung kirchlicher Ämter auszuschliessen. Wer sich hierbei auf die Bibel beruft, um Frauen das Predigen zu verbieten, der verpasst das Anliegen der ganzen Bibel. Verfehlt die Botschaft Jesu Christi. Der verfehlt das Ziel des Erscheinens seiner Person als Erlöser und Befreier auf dieser Erde.

Diskriminierung von Frauen ist ein politisch-kulturelles, ein gesellschaftliches Problem und nicht primär ein theologisches. Gerade, theologisch gesehen, ist ja das Gegenteil der Fall. Denn im Reich Gottes gibt es kein Gefälle mehr zwischen Mann und Frau.

Das Reich Gottes ist die Gesellschaftsutopie Gottes für uns Menschen, es ist die Zukunft der Menschheit. Aber eben darum nicht etwas, das wir als Menschen herbeiführen könnten. Nur von hier aus wird diese Frage zu einem theologischen Plädoyer für die Frauen.

Das Reich Gottes ist das Ziel unseres Weges als Christen und wenn seine zukünftige Gerechtigkeit sich bereits heute schon in Teilen erfüllt, dann ist es nicht unser Verdienst, sondern Gottes Gnade unter uns.

Dem Kommen von Gottes Reich im Weg zu stehen, ob theologisch oder untheologisch, ob mit der Bibel in der Hand oder ohne, heisst Gottes Gnade abzuwehren.

Denn Gottes Reich ist, dass Sklaven frei, dass Arme reich und Männer wie Frauen geliebt werden. D. h., dass gleiches Recht für alle gilt, dass allen die gleichen Chancen eingeräumt werden und keiner bewusst benachteiligt oder in seiner Freiheit unrechtmässig eingeschränkt wird.

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
– Die Bibel, Gal 3,28

Die Zukunft der Frauen in der Kirche

Ich hoffe, dass Frauen in Freikirchen in Zukunft selbst ihren Platz finden, dass das sanfte Moralisieren, der ausgeübte Druck, um Frauen die Kirchenämter bitter werden zu lassen, bewusst einmal angesprochen, angegangen und abgebrochen wird.

Besonders von Gemeindeleitungen und Verantwortungsträgern würde ich das erwarten. Und das geschieht hoffentlich immer mehr, wenn zwar langsam, so doch stetig.

Die Männer in den Kirchen sollten den Frauen bewusst Raum abgeben und ihnen die Gelegenheit geben sich frei äussern und entfalten zu können.

Männer in der Kirche tragen die Verantwortung, bewusst solche Räume zu schaffen. Angstfreie Räume, in denen Frauen sich auch theologisch ernstgenommen fühlen und ihre Empfindungen, Erfahrungen und Erlebnisse nicht vor der Tür der Gespräche und Debatte abstellen müssen. By the way: Dasselbe gilt ja auch für Männer.

Vielerorts beginnt das arktische Eis zu schmelzen und bekommt Risse, Licht scheint hindurch. Ich persönlich habe Hoffnung, dass ein positiver Klimawandel in dieser konkreten Frage die Freikirchen zunehmend erwärmt.

Die Zukunft wird es zeigen und an der Zukunft führt uns nichts vorbei.


Das Thema beschäftigt mich schon seit Längerem und darum, habe ich dazu einen Essay geschrieben, für alle, die es auch so beschäftigt und rationale und logische Argumente für die Frauen lesen wollen, hier der Link:

Ein Stück Theologie für die Frauen in der Gemeinde Ein Essay zur Gleichstellung der Frauen in der Kirche
Die "Frauenfrage" ist in vielen freikirchlich-evangelikalen Gemeinden leider kein Thema. Nicht weil man sich klar für Frauen stark machen würde, sondern weil oft scheinbar klar sei, dass Predigt, Pastoraldienst usw. in der Religion, in der

Darin findet ihr auch eine Auseinandersetzung mit den Bibelstellen und einer Lesart dieser Stellen, die auf den ersten Blick gegen die Frauen heute im Pastoraldienst zu sprechen scheinen.


Quellen und Buchempfehlungen:

  • Klassische theologische Argumentation, warum Männern die Verantwortung des Pastoralamts vorbehalten bleiben sollte: Werner Neuer: Mann und Frau in christlicher Sicht, Giessen 2., erw. Aufl. 1982.
  • Aktuelles Plädoyer eines Regionalleiters des freikirchlichen Gemeindeverbands Chrischona Schweiz: Christian Haslebacher: Yes, she can! Die Rolle der Frau in der Gemeinde. Ein bibelfestes Plädoyer, Basel 2016.
  • Wer besser nachvollziehen möchte, warum konservative Theologen sich als Reaktion auf Bibelkritik oft in den Raum der Ethik und Moral zurückzogen und nicht selten verbarrikadierten, empfehle ich: Ulrich Wilckens, Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, Neukirchen-Vluyn 2012.

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